Die Krull Brüder
In einer kleinen Siedlung in Bahia (im Nordosten Brasiliens) mit dem sprechenden Namen »Helvécia« leben die Krull-Brüder. Sie sind Nachfahren von Ernesto und Frederico Krull, den Neffen des Hamburger Kaufmanns Peter (Pedro) Peycke. Vor rund 200 Jahren hatte Peycke hier zusammen mit Schweizer Investoren eine riesige Kolonie mit Kaffeeplantagen gegründet, die zu Ehren von Maria Leopoldine von Österreich, der Kaiserin von Brasilien und Königin von Portugal den Namen „Leopoldina“ trug. Während Peycke als Hamburger Konsul in Salvador da Bahia amtierte, kümmerten sich Ernesto and Frederico Krull um die Verwaltung der Farm und brachten es schnell zu einem beträchtlichen Reichtum. Obwohl der Einsatz von Sklavenarbeit offiziell verboten war, schufteten seit den 1840er Jahren bis zu 125 Versklavte für die Krullfamilie – mehr als auf jeder anderen Farm in Leopoldina.
Für weitere Informationen zu „Leopoldina“ siehe auch die von Marcelo Rezende und Eduardo Simantob kuratierte Ausstellung Kaffee aus Helvécia
Dom Smaz: Black Helvetia, Helvécia, Bahia, Brasilien 2015-2018
Fotoserie
Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers
Indianisches Liebespaar
Die heitere Szene im höfischen Ambiente wirft ein Schlaglicht auf die globale Imagination um 1750: Laute und Schachbrett stammen aus dem arabischen Raum, der Kaffee in der Tasse aus Afrika oder der Karibik, der Papagei aus Südamerika. Die „indianischen“ Blumen auf dem Kleid der Frau sind aus Japan, wie überhaupt die Gewandung der beiden an Kimonos und Ostasien denken lässt. Als diese Skulptur geformt wurde, lief der transatlantische Dreieckshandel auf Hochtouren. Sind die enormen Privilegien, die das Liebespaar genießt, naiv zu betrachten? Anders gefragt, was wäre neben der Rokokko-Skulptur noch zu zeigen, damit sich ein Gesamtbild ergibt?
Bügeltasche mit Papagei
Brief an den Präsidenten von Bahia
In diesem Brief informiert der Hamburger Konsul Peter Peycke den Präsidenten von Bahia, dass er auf seine Plantage „Leopoldina“ zurückkehren und deshalb seinen Pass zurückerhalten möchte.
Knebel
Die Eisenmaske gehörte zur brutalen Maschinerie des Plantagen-Kolonialismus. Sie wurde den Versklavten als Strafe aufgesetzt und hinten verschlossen. Objekte, die wie diese Maske von der dunklen Seite der Moderne handeln, tauchen in westlichen Museen nur selten auf. Die Maske stammt aus dem Museu Afro Brasil in São Paulo, das von dem Künstler Emanoel Araújo gegründet und lange Jahre geleitet wurde. Araújo vertraute dem Eigenleben der Objekte und präsentierte das Folterinstrument wie eine „autonome“ Skulptur, einer Picasso-Skulptur nicht unähnlich. Er legte Wert darauf, dass sich die Betrachter:innen dem Objekt ohne Vorverständnis oder vorausgehende Erklärung nähern können. Erst bei eingehender Betrachtung – bei der Rekonstruktion dessen, „was das eigentlich ist“ – setzt die Erkenntnis ein und wirkt umso nachhaltiger.
Capoeira
Der brasilianische „Capoeira“ wurde von Versklavten entwickelt. Als Tanzform getarnte Übungen dienten zum Kampftraining.
Denise Bertschi: Helvécia, Brazil, 2017
Lochstickerei und Ausschnitt aus 3-Screen HD-Video
Mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin
Am I not a Man and a Brother?
Josiah Wedgwood trieb die Industrialisierung der englischen Keramikproduktion voran, war aber auch aktives Mitglied der neu gegründeten “Society for the Abolition of the Slave Trade”. Zur Unterstützung der Bewegung ließ er William Hackwood, seinen talentiertesten Modelleur, ein Medaillon entwerfen. Es zeigt einen in Ketten gelegten Schwarzen, der niederkniet. Daneben steht die Zeile: „Am I not a Man and a Brother“. Wedgwood ließ das Medaillon auf eigene Kosten produzieren und verteilen. Damen der feinen Gesellschaft trugen es als Brosche, Hutnadel oder Kette, die Gentlemen zu ihren Schnupftabakdosen.
Barocktür einer Moschee in Porto-Novo
Versklavte, denen die Rückkehr nach Westafrika gelang, importierten aus Brasilien handwerkliches und formalästhetisches Know-how. Moscheen, wie die in Porto-Novo (Benin), sprechen die Sprache des portugiesischen Barock.
St. Galler Spitze und Condomblé
Stickereiprodukte haben in der Schweiz eine lange Tradition. Mit der schweizerischen Massenauswanderung im 19. Jahrhundert wanderte auch textiles Know-How nach Übersee aus. Als Denise Bertschi im Nordosten Brasiliens ihren Forschungen nachging, stieß sie auf Lochstickereien, die ihr aus der Schweiz vertraut waren. Diese Stickereien schmückten weiße Gewänder, die bei Candomblé-Zeremonien im Gebrauch sind.
Jenseits der realen Migrationsgeschichte der Stickerei stellt Bertschis Arbeit eine assoziative Verbindung her – zwischen einerseits der Lochstickerei und andererseits den löchrigen Dokumenten in tropischen Archiven. Das Tuch listet (in Originalschrift) den Nachlass eines Schweizer Plantagenbesitzers auf. Zu seinem Besitz in Bahia gehörten 150 Versklavte.
Denise Bertschi: Helvécia, Brazil, 2017
Lochstickerei und Ausschnitt aus 3-Screen HD-Video
Mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin
Werbeplakat der Hamburger Gummi-Waaren Compagnie
Bevor die Briten in Südostasien Kautschukbäume anbauten, kam Naturkautschuk meist aus Amazonien. In sprechendem Kontrast zu den Realitäten der Gummiproduktion zeigt das Plakat eine indigene Kleinfamilie, die in bürgerlich-idyllischer Manier ihrer Arbeit nachgeht.
Fordlandia
Der halbstündige Film entführt uns in den brasilianischen Dschungel, wobei die Kamera geduldig die überwältigende Umgebung aufnimmt. Die Bilder erzählen vom Ende einer Fantasie namens „Fordlandîa“ – Henry Fords Plan, den Kautschuk, den er für seine Automobilproduktion (für Reifen, Schläuche und Dichtungen) benötigte, in Amazonien anzubauen und zu verarbeiten.
Schale mit Kringelornament
In den 1950er Jahren kaufte Lina Bo Bardi systematisch Alltagsobjekte auf Märkten im brasilianischen Nordosten. Dazu gehörten Tonschalen, Krüge, Körbe oder Holzlöffel. Die formbewusste Architektin und Designerin erkannte in diesen einfachen, funktionalen Gegenständen den Schlüssel zu einem eigenständigen brasilianischen Design.
Bahia, 1940er
Kringel, wie sie Pelé zeichnete, finden sich auf Tonschalen oder Kleidermustern im brasilianischen Bahia, aber auch in Westafrika.
Objekt Nr. 42
Der brasilianische Fußballgott Pelé signierte das lederne Rund mit einem als Kringel stilisierten »P«. Sein Verein war der FC Santos — die Stadt mit dem größten Kaffeehafen…Signalisiert Pelé mit dieser Unterschrift seine Zugehörigkeit zur afro-brasilianischen Kultur? Oder ginge eine solche Deutung zu weit, da doch die Spirale ein nahezu universal verbreitetes Symbol darstellt?
Allan Sekula: The Dockers‘ Museum, Objekt Nr. 42, 2010
Fußball von Pelé signiert
Mit freundlicher Genehmigung des MHKA (Museum of Contemporary Art Antwerp), Antwerpen
ARK Collective
Ikutaro Kakehashi, der spätere Gründer von Roland, entwickelte in den 1960er Jahren die erste Drummachine mit einem vorprgrammierten rhythm pattern generator. Als Grundlage für den Bossanova-Beat wählte er aus den unendlich vielen Bossanova-Variationen den damals äußerst populären Song „The Girl from Ipanamena“ und legte damit fürs erste die globalen Hörgewohnheiten auf ein Klangmuster fest. In diesem Sinne kann der »Bossa Nova« auch als Erfindung japanischer Elektroingenieure gelten…
Team: Johannes Ismaiel-Wendt & Malte Pelleter Produktion Audio-Tracks: Sebastian Kunas Sprecherin: Sarah-Indriyati Hardjowirogo ARK (Arkestrated Rhythmachine Komplexities), Installation/ 10 Rhythmus-Maschinen, 3 Sampler, Kopfhörer, Mehrkanal-Audio, 2018, Mit freundlicher Genehmigung des Kollektivs.
Knebel
Die Eisenmaske gehörte zur brutalen Maschinerie des Plantagen-Kolonialismus. Sie wurde den Versklavten als Strafe aufgesetzt und hinten verschlossen. Objekte, die wie diese Maske von der dunklen Seite der Moderne handeln, tauchen in westlichen Museen nur selten auf. Die Maske stammt aus dem Museu Afro-Brasil in São Paulo, das von dem Künstler Emanoel Araújo gegründet und lange Jahre geleitet wurde. Araújo vertraute dem Eigenleben der Objekte und präsentierte das Folterinstrument wie eine „autonome“ Skulptur, einer Picasso-Skulptur nicht unähnlich. Er legte Wert darauf, dass sich die Betrachter:innen dem Objekt ohne Vorverständnis oder vorausgehende Erklärung nähern können. Erst bei eingehender Betrachtung – bei der Rekonstruktion dessen, „was das eigentlich ist“ – setzt die Erkenntnis ein und wirkt umso nachhaltiger.
Objekt Nr. 42 (The Dockers‘ Museum)
Das lederne Rund trägt die Signatur des brasilianischen Fußballgottes Pelé: ein „P“ mit Kringel. Pelé spielte für den FC Santos, die Hafenstadt, aus der Brasilien seinen Kaffee in alle Welt verschifft. Deutet die Signatur auf Pelés Zugehörigkeit zur afro-brasilianischen Kultur? Der Ball stammt aus der Sammlung des “Docker’s Museum”. Dieses Museum erzählt Globalgeschichte aus der Perspektive von Hafenarbeiter:innen. Es wurde 2010 von Allan Sekula mit Mitteln des MuKHA (Museum moderner Kunst Antwerpen) gegründet.