Omoshirogara

INUI Yoshiko & Roger M. Buergel

I / Die Geschichte der globalen Moderne kennt ein besonderes Kapitel. Es handelt von Japan, das im 19. Jahrhundert vor der Herausforderung stand sich neu zu erfinden. Diese Neuerfindung, die sämtliche Bereiche des japanischen Lebens umfasste und umwälzte, trat auf im Gewand der Wiederherstellung des Alten. Sie heißt daher „Meiji-Restauration“.

Der „Meiji“-Kaiser war der erste moderne Kaiser. Er diente nicht mehr als bloß repräsentativer Herrscher, sondern rückte als Akteur ins Zentrum der politischen Macht. Die Schaffung einer mächtigen, ja „göttlichen“ Zentralinstanz war die zentrale Voraussetzung, um das fragmentierte Japan zu einen und jenen gewaltigen, von oben angeordneten und koordinierten Mobilisierungsschub zu leisten, der die Souveränität Japans gewährleisten sollte. Das jedenfalls war die Überzeugung der japanischen Elite um 1870.

Den Startschuss zur Meiji-Restauration gab eine Flotilla „schwarzer Schiffe“, die 1853 in die Bucht von Edo (dem heutigen Tokyo) einfuhr. Als „schwarze Schiffe“ bezeichneten die Japaner die Dampfschiffe der US-amerikanischen Marine, die den Pazifik überquerten, um einen Brief des US-amerikanischen Präsidenten zu überbringen. Das präsidiale Schreiben legte den Japanern nahe ihre selbstgewählte Isolation aufzugeben und Handelsbeziehungen mit dem Westen aufzunehmen.

Auf japanischer Seite war nicht viel Phantasie vonnöten, um sich auszumalen, was diese Aufforderung bedeutete. Die westlichen Mächte, allen voran Frankreich und Großbritannien, trieben schon eine ganze Weile in Asien ihr Unwesen. Indien war britische Kolonie und diente zum Anbau von Opium — dem einzigen Produkt, mit dem die Briten im Chinahandel reüssieren konnten. Als China sich gegen weitere Importe der Droge sperrte, brach Krieg aus. Die beiden „Opiumkriege“ (1839-42 und 1856-60) zwangen China in die Knie. Das Reich der Mitte hatte sich dem Regime der „Ungleichen Verträge“ zu unterwerfen und musste Gebiete abtreten: die Insel Hongkong und „Konzessionsgebiete“ in Traktatshäfen wie Shanghai.

Das koloniale Treiben des Westens konnte die japanische Elite gewissermaßen aus erster Reihe verfolgen. Illusionen gab es daher keine. Der Westen war technologisch haushoch überlegen und die „schwarzen Schiffe“ mit Kanonen reich bestückt. Die Flotilla wollte bald wiederkommen, um sich die japanische Antwort abzuholen.

II / Läßt sich Historie am Leitfaden eines Kleidungsstücks erzählen? Vor allem, wenn „Historie“ mehr sein soll als das bloße Herunterbeten von Fakten oder die Aufreihung von Ereignissen. Der Kimono ist ein Kleidungsstück, zu dessen Haupteigenschaften formale Rigidität gehört. Er besteht aus verschiedenen Teilen, die am Leib zusammengesetzt werden, bis sie eine Person ergeben. Er kennt verschiedene Materialien und Grade der Leichtigkeit und Schwere und gehorcht der Strenge des zeremoniellen Gebrauchs ebenso wie der Unbeschwertheit des Moments. Er zeigt und verbirgt, vor allem letzteres, weil er einer Kleiderordnung untersteht, einem hierarchischen System, und dieses buchstäblich verkörpert.

Ohne der raffinierten Ordnung und langen Geschichte des Kimono an dieser Stelle gerecht werden zu können, sei doch verraten, dass formale Strenge dem Erfindungsreichtum der Mode nicht im Weg stehen muss. Eher im Gegenteil. Nur dass die Moden sich weniger im Schnitt zeigen als auf der Oberfläche der Stoffe: als Texturen und Muster. Diese Oberflächen müssen, wie bereits angedeutet, nicht notwendig nach außen wirken. Ja, die ostentative Zurschaustellung von ornamentalem und materiellem Prunk war in Japan gewissen Klassen (der reichen Kaufmannsschicht) sogar explizit untersagt. Und so überrascht es nicht, dass sich Muster und Bilder auf den Innenseiten der Kimonos wiederfinden — um nur dann in Erscheinung zu treten, wenn die Situation es erfordert. Oder wenn der Träger oder die Trägerin es will. Mit anderen Worten, der Kimono ist eine Ausstellung.

III / Mit der Meiji-Restauration begann eine Epoche revolutionärer Umwälzungen. Sie reichte von der häuslichen Sphäre bis zur Ebene staatlicher Institutionen. Japan leistete sich ein Schul- und Universitätssystem, in dem westliches Wissen vermittelt wurde (zunächst von westlichen Lehrern und später von Japanern, die im Westen gelernt hatten). Es gab sich eine Verfassung, die in weiten Teilen der preussischen Verfassung entsprach und in enger Beratung mit Herman Roesler, einem deutschen Juristen, abgefasst wurde. Roesler wandte sich vergeblich gegen die Idee, den göttlichen Ursprung des japanischen Kaisertums in der Verfassung zu verankern.

Die ersten Wahlen zum japanischen Parlament fanden 1890 statt. Die Kabinettstruktur der Regierung folgte westlichem Muster. Priorität kam finanz- und industriepolitischen Weichenstellungen zu. Japan war arm an Bodenschätzen, die (wie Eisenerz, Kohle oder Rohöl) für die Industrialisierung aber unverzichtbar waren und daher importiert werden mussten. Eine besondere Rolle spielte das Militär. Seine Vertreter, die der gesellschaftlichen Elite entstammten, waren von Anfang an engstens eingebunden in den Modernisierungsprozess, der nicht frei von Spannungen und bürgerkriegsähnlichen Konflikten verlief. Tatsächlich verkörperte die Armee bald den „neuen Geist“ und schon der oberflächliche Blick auf die „Omoshirogara“-Muster lehrt, wie paradigmatisch die Rolle des Militärs im Medium des Kimono interpretiert wird: als loyales Element der kaiserlichen Ordnung und als Emblem japanischer Wehrhaftigkeit.

IV / „Omoshirogara“ bedeutet soviel wie „bizarre“ Muster. Genauer geht es um Muster, welche die moderne Erfahrung absorbiert, das heißt aufgenommen und verarbeitet haben. Daher spielen Omoshirogara mit neuen Technologien, wie Film oder Flugzeugen. Sie dokumentieren Ereignisse von zeitgeschichtlicher Bedeutung, wie die Olympischen Spiele oder das Abkommen von Washington, das nach Ende des Ersten Weltkriegs eine Obergrenze für Kriegsschiffe festlegte. Sie porträtieren Helden des Tages, wie Japans siegreiche Generäle in den Kriegen mit China (1894/95) und Russland (1904/05). Omoshirogara-Muster bedienen sich bei traditionellen Massenmedien, wie dem japanischen Holzschnitt, aber auch bei den neuen Massenmedien, wie Postkarte und Zeitung. Sie breiten die Landkarten des imperialistischen Japan aus, das sich Taiwan (1894/95) und Korea (1910) einverleibte und später, in den 1930er Jahren, Teile Nordostchinas (Mandschurei). Die Muster sprechen auch in Symbolen. Dazu gehören Anker, Familienwappen, der mytische Berg Fuji, die Abzeichen patriotischer Frauenorganisationen, nationale Flaggen sowie Symbole des italienischen Faschismus und das Hakenkreuz der Nationalsozialisten.

Ein besonders elaborierte Muster entwirft den japanischen Alltag, so wie er nach patriotischem Verständnis ablaufen sollte, Stunde um Stunde. Der Bilderbogen, angeordnet um das Ziffernblatt einer Uhr, plädiert unter anderem für frugale Mahlzeiten, den Verzicht auf Shopping oder abendliche Vergnügungen und die Zeugung von Kindern für den Kaiser.

V / Die moderne Entwicklung Japans, die mit der Meiji-Restauration begann, setzte sich fort in der Taishō- (1912-26) und Shōwa-Ära (1926-89). Tatsächlich ist diese Entwicklung nicht einfach eine Entwicklung, ein einfacher Entwicklungsstrang, sondern wie alle Nationengeschichten ein komplexes und dynamisches Geflecht. Dabei geht es um den Platz Japans in der Welt, der kein fixer Platz ist, sondern eine Position, die sich mit den Veränderungen der globalen Großwetterlage verschiebt.

Durch den Niedergang des kaiserlichen China, der 1911 in die Revolution mündete, war Japan mit einer instabilen Nachbarschaft konfrontiert. Die schon erwähnten Kriege gegen China (1894/95) und Russland (1904/05) wurden um Territorien geführt, die Japan als Pufferzonen begriff (insbesondere die koreanische Halbinsel und Nordost-China). Internationale Aufmerksamkeit erregte die krachende militärische Niederlage, die Japan Russland zufügte. Seit dem Mittelalter hatte es das nicht mehr gegeben: dass ein nicht-westliches Imperium eine westliche Armee vernichtend schlägt. Entsprechend groß war denn auch das Augenreiben in Moskau, London, Paris und Berlin. Der russisch-japanische Krieg nahm viele Elemente des Gemetzels vorweg, das 1914 in Europa ausbrechen sollte: Schützengräben, Stacheldrahtverhaue und Maschinengewehrnester (alles Motive, die in Omoshirogara-Muster Einzug hielten) und verlief entsprechend blutig. Der japanische Sieg ließ aber auch euphorische Gefühle aufkommen: bei bei den kolonisierten Eliten Asiens. Er war ein deutlicher Hinweis, dass die westliche Hegemonie nicht in Stein gemeißelt war, und ließ Japans Modernisierung in Eigenregie als Vorbote einer postkolonialen Weltordnung erscheinen.

In Folge des russisch-japanischen Krieges etablierte sich Japan als stärkste Macht Asiens. Es erhielt einen Sitz im Völkerbund und machte die „Erstarkung Asiens“ zu seiner Sache. Diese Leitidee, die auf die Emanzipation Asiens Ziel setzte, wurde von nationalistischen Kräften später als Freibrief für Japans imperialistische Expansionspolitik umgedeutet. Die zunehmend internationalistische Ausrichtung und wirtschaftliche Verflechtung mit dem Westen nahm auch Einfluss auf die Kimono-Produktion. Mit Methoden der Marktanalyse untersuchte der Warenhauskonzern Takashimaya das Konsumentenverhalten in den westlichen Metropolen. Zwischen den Kontinenten wanderten Muster hin und her und wurden debattiert, um sicherzugehen, dass die Themen der Saison in New York, Paris oder London auf offene Augen stießen.

Der japanische Internationalismus erhielt aber auch Dämpfer, darunter das schwere Kantō-Erdbeben (1923), das Kräfte im Inland absorbierte, aber auch die restriktive Einwanderungspolitik der USA (1924) sowie die Bankenkrise (1927). Sie traf Japan empfindlich, weil es Rohstoffimporte durch Handel und Kredite finanzierte. Zur globalen Krisenstimmung trat bald ein wachsender Missmut der Großmächte angesichts militärischer Abenteuer. Japan schuf in der Mandschurei einen Marionettenstaat unter dem Namen „Manchukuo“; zur Legitimation setzte es 1932 den letzten Kaiser Chinas als Regenten ein. Auf den internationalen Protest gegen die Landnahme und die Einsetzung einer Kommission, die das Geschehen untersuchte, reagierte Japan mit dem Austritt aus dem Völkerbund. Tokio war der Ansicht, dass in Genf mit zweierlei Maß gemessen wurde. Hatten sich die westlichen Mächte über Jahrhunderte schamlos bedient in ihren Kolonien und sich damit einen nahezu uneinholbaren Wettbewerbsvorteil verschafft, wurde Japan nun auf die geoplitischen Finger geklopft.

„Manchukuo“ ist ein wiederkehrender Topos in Omoshirogara-Mustern. Die äußerst rohstoffreiche Region (Eisenerz und Sojabohnen) wird besungen als geopolitischer Freiraum, als unbesiedeltes Land, das darauf wartet von Japan kultiviert zu werden. Durchzogen wird das riesige Territorium durch ein Geäder von Eisenbahnlinien. Zugleich diente Manchukuo aus militärstrageischer Perspektive als Pufferzone gegenüber der Sowjetunion.

1936 schließlich schlittert Japan in einen selbstverschuldeten Krieg mit China, der im Lauf der Jahre immer mehr Ressourcen fressen und die japanische Wirtschaft oder, besser, das gesellschaftliche Gefüge überfordern sollte. Japan lernte die Gürtel noch enger zu schnallen als sie nach Jahrzehnten rapider Modernisierung und „nationalen Notstands“ ohnehin saßen. Der Kimono machte einer Art Kriegstracht Platz, monpe genannt, aber das ist nicht mehr das Thema von OMOSHIROGARA. Die chronologisch spätesten Kimonogürtel (obi) mit Wolken- und Bombermotiven arbeiten mit reduzierten Formen, die auf Raffia (ein Stoff, der aus Palmenfasern gewonnen wird) wurden. Ärmer ging es nicht.

VI / Die Zeit um 1900 samt der anschließenden Jahrzehnten hatte mehr zu bieten als die apokalyptische Makrogeschichte suggeriert. Es war eine Epoche künstlerischer Aufbrüche und sah auch im modernen Alltag der Metropolen ganz neue Typen auftreten, etwa das moga, das modern girl. Omoshirogara wandten sich tatsächlich an moderne Konsumentinnen, die im Kimono ihre Modernität zeigten. Sie wandten sich aber auch an elitäre Herrenzirkel, die Kimonos ausschließlich im privaten Rahmen trugen und mittels Mustern ihre nationalpatriotische oder ultranationalistische Gesinnung demonstrierten. Sie wurden von Kindern, zumal von Jungen getragen, und rahmten das traditionelle Zeremoniell des Erwachsenwerdens mit Symbolen von Kraft und Stärke. Sie wurden schließlich von Geishas getragen — von Frauen, zu deren Kunst es gehörte in einer erzpatriarchalen Gesellschaft mit Männern auf Augenhöhe zu parlieren. Dazu gehörte über die neuesten politischen Entwicklungen im Bilde zu sein.

Erläuterungen zu den einzelnen Kimonos finden sich hier: Omoshirogara

»›Bizarre Muster‹ waren eine direkte Antwort auf den Schock der Moderne«