Die thronende Basaltgöttin*

Roger M. Buergel und Sophia Prinz

Mit strengem Blick schleicht die Frau um die Vitrine herum. Was mag sie da interessieren? Die Dinge in der Vitrine sind ziemlich unspektakulär: ein Kamm aus Kautschuk, eine Meissener Porzellanscherbe, bemalt mit Chinoiserien, und eine antike Tonscheibe mit dem Motiv einer Palmette. Die Vitrine ist gedacht zum Ausprobieren. Sie steht in einem Hinterzimmer des Museums für Kunst und Gewerbe in Hamburg. Die Öffentlichkeit hat hier keinen Zutritt — zu diesem  Versuchslabor für kuratorische Höhenflüge (oder Abstürze).

Wer in Museen oder Ausstellungen arbeitet kennt das: man entwickelt Zusammenhänge, seien diese konzeptueller, ästhetischer oder historischer Natur, und macht sich an die Aufgabe, diese Zusammenhänge mit den entsprechenden Objekten festzuzurren und ihnen eine Gestalt zu geben. Doch die Objekte verweigern sich dem Argument. Sie bleiben stumm, tun so, als hätten sie sich nichts zu sagen, als wollten sie zur kuratorischen Konstruktion partout nichts beitragen. Stattdessen setzen sie ganz andere Argumentationsketten in Gang: solche, die nicht vorgesehen sind, ja auf die man selbst nie gekommen wäre. Um soetwas auszuprobieren, solche nicht-intendierten Assoziationen in Gang zu setzen, braucht man ein Hinterzimmer mit Versuchsvitrine. Und um die schleicht die Frau jetzt herum.

Was sie an der Vitrine denn so interessant findet, können wir die Frau nicht fragen. Sie ist eben erst angekommen aus Syrien, sie spricht kurdisch und türkisch, und wir weder das eine noch das andere. Sie ist aber nicht allein, sondern kam mit einer Gruppe von Frauen, die in Hamburg leben. Sie alle engagieren sich für die politische Anerkennung einer de facto autonomen Region im Nordosten Syriens. Diese Region wird «Rojava» genannt, was auf kurdisch soviel bedeutet wie «Westen» oder «Sonnenuntergang».[1] Die Frauen schränkten aber gleich ein, dass dieser Begriff seine Tücken hat. Es ginge ihnen nicht darum das Territorium allein für Kurd_innen zu reklamieren. In Rojava, so wird uns erklärt, leben verschiedene ethnische und religiöse Gruppierungen. Das politische Interesse der Aktivistinnen, die hier im Museum zu Besuch sind, gilt der friedlichen Koexistenz. Dazu bedarf es einer kommunalen Selbstverwaltung, vor allem aber der politischen Stärkung von Frauen aus allen Bevölkerungsteilen.[2]

Schliesslich übersetzt eine der Hamburger Rojava-Aktivistinnen unsere Frage. Die Antwort der Kurdin ist mehr philosophischer Natur. Sie war am Grübeln über den Umgang mit kulturellem Erbe drüben in Syrien und hier in Deutschland. Ob wir denn wissen, dass die YPG-Einheiten in hohem Maße mit dem Schutz archäologischer Stätten betraut seien?[3] Nein, das wissen wir nicht; nur die ikonoklastischen Exzesse des «Islamischen Staates» sind uns bekannt. Ja, meinte die Frau, es sei auch kein Wunder, dass wir das nicht wüssten. Die kurdischen Verbände hätten schliesslich kein Interesse daran dieses Thema in die Öffentlichkeit zu tragen, und die Truppen des IS damit auf die Orte aufmerksam zu machen. Vor der Vitrine habe sie sich gefragt — jetzt, wo sie selbst nicht mehr im Kriegsgebiet im Einsatz ist —, was die Dinge eigentlich bedeuten oder was es heißt, Objekte von anno dazumal zu retten, zu bewahren, zu verwahren, zu zeigen und sich aus welchen Gründen und Motiven auch immer zu ihnen ins Verhältnis zu setzen.

Das ist eine profunde Frage, auf die es keine einfache Antwort gibt. Sie inmitten eines europäischen Museums aufzuwerfen, noch dazu einem Kunstgewerbemuseum, das als Kind der Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts auf einem schier unüberschaubaren Berg von Kram sitzt (egal, ob der nun sublimer Natur oder vollkommen unerheblich ist), macht die Dinge nicht einfacher.[4]

Die Gruppe kurdischer Aktivistinnen verirrte sich damals — das Ganze spielte sich 2017 ab — nicht zufällig ins Museum. Sie war eingeladen mitzutun an einer Ausstellung, die unter dem Titel «Mobile Welten» eine Brücke schlagen wollte zwischen der transkulturellen Lebensrealität im postmigrantischen Deutschland und einer Sammlung, in der viele Objekte nicht einfach mit sich identisch sind, sondern prismatischen Charakter zeigen, also von hier und dort, gestern und heute und vielleicht auch morgen erzählen. Wer, so dachten wir, braucht schon Kategorien wie «Islam», «Moderne», «Vorderasien» oder «Antike», wenn es doch so viel unterhaltsamer und lehrreicher ist den eigensinnigen Wanderbewegungen der Objekte zu folgen?[5]

Anfangs spielten die Aktivistinnen mit dem Plan, die mesopotamischen Objekte der Hamburger Museumssammlung zu kontextualisieren: mit einem kleinen Dokumentationsarchiv aus Bild und Text zur aktuellen Situation in Nordsyrien. Beim Aufbau dieses Dokumentationsarchivs im erwähnten Hinterzimmer wurde aber eines deutlich: dokumentarische Evidenz, die in der normalen Welt ganz gut funktioniert, verwandelt sich im Museumsraum wie durch Zauberhand in Fiktion. Sie wird ästhetisch, und das wollten die Aktivistinnen nicht, und wir auch nicht. Daher war ein anderes Vorgehen gefragt, eines das auf die Mobilisierungskraft der Museumsobjekte selbst setzt.

Eine erste Kandidatin, die sich für eine solche Mobilisierung aufdrängte, befand sich allerdings in Berlin: die «Thronende Göttin». Der Name ist ihr angedichtet, da man über das Objekt eigentlich nichts weiß, außer dass es sich um eine rund 3000 Jahre alte Grabfigur aus Basalt handelt, die Zöpfe trägt. Entdeckt und ausgegraben wurde die «Göttin» zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Nordsyrien, am Tell Halaf, einem Hügel nahe der heutigen türkisch-syrischen Grenze. Ihr Entdecker war ein deutscher Diplomat und Hobbyarchäologe namens Max von Oppenheim, der damals aus seinem Büro in Kairo das Kaiserreich mit Informationen über den Orient versorgte. Seiner jüdischen Herkunft wegen war Oppenheim eine offizielle Karriere im antisemitisch eingefärbten Diplomatischen Dienst versagt. Das hielt ihn aber nicht davon ab, inoffizielle Missionen auf eigene Faust und Kosten zu unternehmen.

Im Rahmen einer solchen Mission erkundete Oppenheim 1899 eine mögliche Trasse für die «Bagdadbahn» — einem gewaltigen Infrastrukturprojekt, das mittels einer Bahnlinie Berlin mit (damals noch) Konstantinopel, Aleppo, Bagdad und schliesslich Basra verbinden sollte. (Die geostrategische Bedeutung einer solchen Bahnlinie, die dem Kaiserreich Zugang zum Roten Meer gewährt hätte, ist kaum zu überschätzen. Neben dem Transport von Truppen und Rohstoffen quer durch Europa und den Nahen Osten, hätte die deutsche Präsenz am Roten Meer die Kontrolle der Briten über ihre Kolonien akut bedroht.)[6]

Während seiner Erkundungsmission wurde Oppenheim auf den Tell Halaf aufmerksam gemacht, und begann 1911 dessen archäologische Schätze im grossen Stil freizulegen. Der Erste Weltkrieg unterbrach die Grabungen zunächst. Oppenheim ging zurück nach Kairo, an  die «Nachrichtenstelle für den Orient», und betrieb den ehrgeizigen Plan, die muslimische Bevölkerung zu einem Djihad gegen die Briten (in Ägypten) und die Russen (im Kaukasus) anzustacheln.[7] Mitte der 1920er Jahre dann, Syrien war inzwischen französisches Mandatsgebiet, konnte er die Ausgrabungen am Tell Halaf fortsetzen. Neben weiteren Skulpturen und Architekturfragmenten wanderte die «Thronende Göttin» nach Berlin. Dort weigerten sich die staatlichen Museen die Funde in ihre Sammlung aufzunehmen, und so entschied sich Oppenheim zur Gründung einer eigenen Institution: dem Tell Halaf-Museum. Eingerichtet in einer leerstehenden Fabrikhalle, zeugte dieses Museum von einem ungehemmten Willen zur Idiosynkrasie (und nahm damit künstlerische Museumsprojekte, wie die von Marcel Broodthaers, Claes Oldenburg oder Allan Sekula vorweg). Besucher wie Carl Einstein und Samuel Beckett schätzten das mesopotamische Gesamtkunstwerk mitten in Berlin, während sich Agatha Christie bei ihrer Museumstour eher langweilte. In ihrem Tagebuch mokiert sie sich zudem über Oppenheims fetischistisches Betragen gegenüber der Basaltgöttin mit den Zöpfen, die er als «meine schöne Venus» anhimmelte.[8]

Den kurdischen Aktivistinnen lag die «Göttin» gleichfalls am Herzen, wiewohl aus anderen Gründen. Sie manifestierte weibliche Gegenmacht — den Triumph über die frauenverachtende Gewalt der selbsternannten Gotteskrieger mit ihrer stupiden Koranauslegung. Gab es im Rahmen von «Mobile Welten» vielleicht eine Möglichkeit, an die «Göttin» heranzukommen? War an soetwas wie eine kleine Restitution zu denken, an die Integration der «Göttin» in eine Ausstellung mit aktivistischer Autorinnenschaft? Dazu ist zu sagen, dass die Aktivistinnen die 3000jährigen Basaltmonumente buchstäblich nehmen: als Vorbilder einer alternative Gegenwart. Das «Sitzende Paar» etwa, ein weiterer Fund Oppenheims, inspiriert eine symmetrische Geschlechterpolitik in Nordsyrien: Die Verfassung der autonomen Region sieht vor, dass jedes Regierungsamt mit einer Doppelspitze, einem Mann und einer Frau zu besetzen ist. Die archäologischen Artefakte sind daher mehr als bloß «kulturelles Erbe». Sie sind tatsächlich Agenten des politischen Wandels. Sie weisen in eine Zukunft, die aus der Vergangenheit kommt.

Klar, ein solcher Umgang mit archäologischen Artefakten bringt die Zeitordnung der westlichen Museumsstandards durcheinander. Wie bitte, eine Antike, die aus der Zukunft kommt? Offensichtlich ist ferner, dass die Artefakte ganz bewusst mit Projektionen belegt und voller Inbrunst angeeignet werden. Niemand hat einen Schimmer, was die «Göttin» oder das «Sitzende Paar» einst bedeuteten. Genau diese Undeutbarkeit aber trägt dazu bei, dass sich die Artefakte mit Eigensinn, mit einer eigenen Geschichte anreichern und zeitgenössisch werden können…

In einer Berliner Bombennacht wurde das Tell Halaf-Museum 1943 komplett zerstört. Ließ die Phosphorhitze den vulkanischen Basalt noch einigermassen kalt, brachte das Löschwasser die Skulpturen zum Bersten. Oppenheims Helfern gelang es immerhin die tausenden Gesteinsbrocken zu bergen und im Depot des Pergamonmuseums einzulagern. Hier verschliefen sie, die in grossen Zeiträumen träumen, die DDR, um 2001 wieder ans Licht geholt und in aufwändiger Weise zunächst rekonstruiert und dann restauriert zu werden. 2011 schliesslich präsentierten die staatlichen Museen zu Berlin die mesopotamischen Artefakte unter dem Titel «Die geretteten Götter aus dem Palast vom Tell Halaf».[9] Das Restaurierungsteam hatte keinerlei Versuche unternommen die massiven Schäden an den Objekten zu verdecken. Umso pathetischer wirken heute die Artefakte mit ihrer zur Schau gestellten Brüchigkeit, wobei das Pathos weniger an den Artefakten selbst haftet als am heroischen, ja staatstragenden Akt ihrer Restaurierung. Die «Göttin» bleibt gebannt im Berliner Museumskosmos.

An eine faktische Aneignung der «Göttin» durch die Rojava-Aktivistinnen war also nicht zu denken, und schon gar nicht an soetwas wie ihre Rückführung nach Nordsyrien. Hier herrscht Krieg, wobei die archäologischen Stätten heute nicht mehr vom IS, sondern von der türkischen Armee angegriffen werden. Zum Glück aber war Oppenheim ein gründlicher Mensch, der im Rahmen einer Teilung der Funde noch vor Ort Gipsabgüsse anfertigen ließ. Der Abguss der «Göttin», der heute in der Gipsformerei der Staatlichen Museen aufbewahrt wird, zeigt die Skulptur, wenn man so will, in ihrem Originalzustand — vor der Zerstörung. Dazu kommt, dass die Abgüsse wahre Virtuosenstücke sind, die auch die Haptik der Skulptur, ihre Basaltoberfläche täuschend echt durch eine Sandschicht wiedergeben. Bei den Rojava-Aktivistinnen herrschte Einigkeit, dass dieser Abguss der unbeschadeten «Göttin» der feministischen Sache wesentlich näher kommt als die pathetische Trümmerfrau aus dem Vorderasiatischen Museum. Tatsächlich entwickelte sich die «Göttin» zu einer Photo Opp nicht nur für die kurdisch-syrische Community in Hamburg.

*zuerst erschienen in: springerin Heft 2/2021

[1] Die Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien kontrollierte 2017/18 ein Gebiet von rund 50,000 km/2, auf dem etwa 4,6 Millionen Menschen verschiedener Ethnien lebten, viele davon Flüchtlinge aus dem syrischen Bürgerkrieg. Nach dem Einmarsch des türkischen Militärs in die Region (2018/19), bei gleichzeitigem Rückzug der US-Truppen, war die autonome Verwaltung samt ihrer Kampfverbände gezwungen mit der syrischen Regierung zu paktieren.

[2] Die Hamburger Aktivistinnen, die bei «Mobile Welten» mitgearbeitet haben, gehören zur Stiftung der Freien Frauen in Syrien (WJAS).

[3] Die YPG bilden die De-facto-Armee in Nordsyrien und waren Teil der von den USA im Kampf gegen den IS gegründeten Demokratischen Streitkräfte Syriens (DKS).

[4] Kunstgewerbemuseen, allen voran das heute Victoria & Albert-Museum in London, sind nicht nur ideologisch den Weltausstellungen verhaftet. Der Gründungsdirektor des Hamburger Museums für Kunst und Gewerbe, Justus Brinckmann, ging auf der Wiener (1873) und den Pariser Weltausstellungen auf Shoppingtour.

[5] Die Ausstellung «Mobile Welten» fand von April bis Oktober 2018 im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe (MKG) statt. Sie war Teil eines Verbundprojekts mit den Universitäten Viadrina (Frankfurt a.d.Oder) und der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität (Frankfurt a.M.). Viele Kapitel dieser Ausstellung waren vorher im Johann Jacobs Museum (Zürich) erarbeitet worden.

[6] Das Projekt der «Bagdadbahn» wurde von 1910-40 betrieben, zunächst mit technologischer und finanzieller Unterstützung durch das deutsche Kaiserreich, das am Vorabend des Ersten Weltkriegs Interesse ein gesteigertes Interesse an den mesopotamischen Ölfeldern hatte. Siehe Sean McMeekin, «The Berlin-Baghdad Express: The Ottoman Empire and Germany’s Bid for World Power», 1898-1918, London (Penguin) 2011.

[7] Siehe Stefan M. Kreutzer, «Dschihad für den deutschen Kaiser: Max von Oppenheim und die Neuordnung des Orients (1914–1918)», Graz (Ares).

[8] Agatha Christie besuchte das Tell Halaf-Museum in Begleitung ihres Mannes, des Archäologen Max Mallowan.

[9] Siehe «Die geretteten Götter aus dem Palast vom Tell Halaf», hg. vom Vorderasiatischen Museum der Staatlichen Museen zu Berlin anlässlich der gleichnamigen Ausstellung 2011 im Pergamonmuseum, Regensburg (Verlag Schnell & Steiner) 2011.